PULSE

Alfred Vogel / Sylvie Courvoisier

Auf „Pulse“ entpuppen sich Sylvie Courvoisier und Alfred Vogel als Autoritäten der dynamischen Transformation jenseits aller Kausalitäten


PULSE

Sylvie Courvoisier: piano
Alfred Vogel: drums

release 19. april 2019, digital auf allen Plattformen
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jazzthing review
can this even be called music review

words by Wolf Kampmann:

Warum nicht einfach mal alles ganz anders machen? Mit allen Erwartungen brechen. Oder noch besser alles, was auch nur in die Nähe von Erwartung kommt, abschalten und durch Neugier, Empathie und den unbedingten Willen zur offenen Kommunikation ersetzen. Vom Vertrauten ausgehend die Türen zum Unbekannten aufstoßen. Das sind Maximen, die sich freilich bei jeder Art von Improvisation ganz von selbst aufdrängen sollten. Leider ist das nur allzu selten der Fall. Dabei steckt in jeder Wahrheit, die sich in Wort, Bild oder Klang manifestiert, schließlich eine tiefere, unaussprechliche Gewissheit, die erahnt, ertastet und transzendiert werden will. Wo das Wort an seine Grenzen stößt, da beginnt im besten Fall die Kunst.

Es gibt bereits eine ganze Reihe von Jazzalben, die sich auf die Arbeit bildender Künstler beziehen. Die Stücke von „Pulse“, dem ersten gemeinsamen Album der schweizerischen, in New York lebenden Pianistin Sylvie Courvoisier und des österreichischen Schlagzeugers Alfred Voge verbindet der Bezug auf Alexander Calder. Jedes der acht Stücke ist nach einer Arbeit des Meisters der Dynamik benannt, der seinen Skulpturen das Fliegen beibrachte. Calder überwand die Schwerkraft, viele seiner Mobiles wirken wie mentale Planetensysteme. Doch – und da sind wir beim Andersmachen – „Pulse“ folgt nicht der Idee der einfachen Vertonungen des Visuellen. Ein solches Konzept gab es nicht, als die Courvoisier und Vogel sich trafen. Als sie sich aber retrospektiv die spontan entstandenen Aufnahmen anhörten, fühlte sich die Pianistin jäh an Calder erinnert. Auch dessen Kreationen sind voller Musik. Wenn man sie umrundet und in der Regel von schräg unten betrachtet, ändert sich je nach Blickwinkel ihr harmonisches Gefüge, ihr Dichtegrad, ihre innere Struktur, ihr Spiel mit Licht und Schatten. Seine Mobiles schwebten den beiden Musikern jedoch nicht beim Spielen vor, sondern boten sich eher im Rückspiegel an. Man könnte es als Reverse Inspiration bezeichnen.

Alfred Vogel und Sylvie Courvoisier haben nie zuvor miteinander gespielt. Weder die Pianistin noch der Drummer wussten, was auf sie zukommt. Sie betraten einen riesigen Raum, der ausgefüllt werden wollte. Mit Klang. Mit Imagination. Mit Puls. Mit etwas, das darauf wartete, eigens für und in diesem Raum geschaffen zu werden. Intuitiv entwarfen die beiden Improvisationskünstler eine Reihe dynamischer Klangskulpturen. Der Raum stellte seine eigenen Forderungen nach einem nur in diesem Rahmen erforderlichen Spannungsverhältnis aus Offenheit und Disziplin. Vor allem aber war ein Akt des bedingungslosen Einlassens notwendig, der alles andere draußen ließ, was nicht zu dieser konkreten Situation gehörte.

Dazu zählte offenbar auch Alfred Vogels Tasche mit den Drumsticks, mit denen er verlässlich zu arbeiten gewohnt ist. Er hatte sie vergessen und musste sich kurzerhand mit neuem Arbeitsgerät behelfen, was sein Spiel auf dem Schlagzeug ungleich minimalistischer und transparenter machte, als man das aus vielen anderen Kontexten des Energiebündels gewohnt ist. Auch Sylvie Courvoisier liebt in dieser Konstellation die Andeutung. Mit psychoakustischem Feingefühl triggert sie auf dem großen Flügel unentwegt Erwartungen, die sie permanent in andere Richtungen ab- und umlenkt. Ihr Spiel wirkt wie ein wuchtiges Flüstern auf den Tasten. „Ich mag es nicht, wenn Künstler gleich alles auf einmal sagen, was zu sagen ist“, bekennt Alfred Vogel. Dieses Postulat könnte durchaus als Überschrift über den acht Improvisationen stehen. Bis zum Äußersten füreinander sensibilisiert, ertasten die beiden Pole einander und leiten das jeweils Gehörte über Sehnen, Nerven und Muskeln an die Finger weiter, um es in Klang zu übersetzen. Jeder Ton hat Platz, darf entstehen und verklingen. Aber nicht nur das, auch für alles „nur“ Gedachte und im konkreten Ton Ungesagte bleibt genug Platz.

Die Pianistin und der Drummer umspielen einander in einem hingebungsvollen Pas de Deux der spontanen Einfälle. Jeder bringt seine Geschichte mit und lässt sie draußen vor der Tür. Bei diesem Treffen starten sie von Punkt Zero. Das Ohr wechselt genauso oft die Perspektive wie bei der Betrachtung von Calders Plastiken und hat Gelegenheit, nicht nur die Veränderung der Positionen und Perspektiven, sondern auch die sich fortdauernd daraus ergebenden dynamischen Zwischenräume zu erkunden. Es geht um Nuancen, um winzige Verschiebungen, die sich stets auf das ganze Gefüge auswirken. Dem altbekannten Satz, in der Ruhe liege die Kraft, lässt sich angesichts dieser Aufnahme hinzufügen, dass im Detail das Universum verborgen liegt.

Auf „Pulse“ entpuppen sich Sylvie Courvoisier und Alfred Vogel als Autoritäten der dynamischen Transformation jenseits aller Kausalitäten. Warum also nicht einfach mal alles ganz anders machen? Es bedarf dazu so wenig und löst doch so viel aus.