little faith
WIRECUTTER
Werner und Hoppe musizieren total angstbefreit. Ein „So macht man das nicht“ gibt es für die beiden Überzeugungstäter ebenso wenig wie den musikalischen Kompromiss.
Micha Hoppe – Drums
Sid Werner – Diddley Bow
synths by Wirecutter
recorded at Frens Studio, Berlin
Mixing by Wirecutter
Mastering by Stefan Brüggemann
Cover photo by Yvi Philipp
Sleeve design by Marina Sylla
VÖ: digital und Vinyl, Galileo Music GmbH
Feb 24, 2023
Wirecutter „Little Faith“
Die innige Beziehung von Mauern und Musik ist so alt wie das Musikmachen selbst. Musik, das wissen wir aus der Bibel, bringt Mauern zum Einsturz. Bands wie Sonic Youth, Melvins, Sunn o))) oder Zu zeigen uns hingegen auch, dass man mit Musik Mauern errichten kann. Zu letzteren gesellt sich das Berliner Duo Wirecutter mit Michael Hoppe und Sidney Werner, deren Walls of Sound auf ihrem Debütalbum „Little Faith“ so hoch und stark sind, dass nicht einmal sie selbst sie überwinden können.
„Extrem langsam, extrem laut, extrem überladen und extrem minimalistisch!“ So beschreibt Sidney Werner die Musik des infernalischen Duos. Und mehr müsste man eigentlich gar nicht dazu sagen, denn alles Weitere offenbart sich von selbst. Vielleicht könnte man noch extrem massiv hinzufügen, wenn sich die Gewitterfront aus Bass, Schlagzeug und Synthesizern unaufhaltsam auf das sehende Ohr zu bewegt. Denn wenn man im ersten Track „Built To Break“ denkt, man hätte die Gangart erfasst, dann legen Werner und Hoppe immer noch einen drauf.
Am Anfang dieses Prozesses, der sich auf „Little Faith“ entrollt, stand Improvisation. Michael Hoppe, von Hause aus Pianist, hier aber knüppeldicke am Schlagzeug, und Sidney Werner, eigentlich Bassist, hier aber an einem archaischen selbstgebauten Diddley Bow, der ausnahmsweise nicht mit einer Gitarrensaite, sondern mit einer Kontrabasssaite bespannt war, ließen sich in mehreren Sessions von nichts als ihrer Intuition treiben. Es war die Zeit des Lockdowns, Vieles hatte sich angestaut, emotional, sozial und musikalisch. All das wollte und musste raus, wie bei einem Dammbruch. „Wir empfanden es als sehr befreiend, mit einer Art Musik zu beginnen, der keine Idee zugrunde liegen musste“, resümiert Sidney Werner. „Dadurch entstand der Klang sehr organisch. Nichts musste diskutiert oder vorgeplant werden. Denn wir haben nicht nur ähnliche Werte, welche Musik wir mögen, sondern wir stimmen auch in den Gründen überein, warum wir sie mögen.“
Nun kann man sich in der ergebnisoffenen Improvisation verlieren oder finden. In diesem Fall war das keine Improvisation um der Improvisation willen, sondern ein gezieltes Suchen, um fündig zu werden. Die Tracks von Wirecutter sind zwar opulent, aber es entsteht zu keinem Zeitpunkt der Eindruck, das Duo würde nicht auf den Punkt kommen, auch wenn dieser Punkt fett ist. Die beiden Protagonisten hörten das auf vorliebengesteuertem Drauflosspielen beruhende Material durch, schnitten es auseinander, fügten einzelne Parts neu zusammen, spielten brachiale Synth-Parts darüber, bis sich Klangbilder einfanden und Strukturen herausschälten.
Eine Mauer ist immer eine Mauer, aber je länger man den Blick auf dem Mauerwerk weilen lässt, desto mehr offenbaren sich die Materialien, Strukturen, Risse und Sedimente, die aus dem scheinbare Monolith eben doch ein Konglomerat machen. So auch bei „Little Faith“. Scheint das Farbspektrum aufs erste Ohr von Schwarz bis Anthrazit zu reichen, offenbaren sich beim Weiterhören ungeahnte komplementäre Kontraste. Im Lauf des Prozesses erarbeitete sich die Band immer wieder neue Standpunkte, Perspektiven und Prioritäten. „Die Musik ist nicht nur konfrontativ“, betont Michael Hoppe. „Sie soll auf keinen Fall als Angriff auf die Ohren verstanden werden. Aber die grundlegende Aggressivität, die der Musik immanent ist, darf schon als Statement zu politischen, gesellschaftlichen und musikalischen Gegebenheiten verstanden werden. In der Wiederholung bestimmter Themen und Motive entfaltet die Musik sogar eine erzählerische Qualität.“
Werner und Hoppe musizieren total angstbefreit. Ein „So macht man das nicht“ gibt es für die beiden Überzeugungstäter ebenso wenig wie den musikalischen Kompromiss. Aus einer bewussten Egal-Haltung heraus, die nichts ausschließt, aber alles ermöglicht, finden sie zu einem postindustriellen Schamanismus, der auch dem Hörer ein Höchstmaß an Offenheit abverlangt. Michael Hoppe bezeichnet es treffend als Retrofuturismus. „Diese im futuristischen Sinne rückwärtsgewandte Musik führt uns zu den nicht existenten Quellen jeder Musik zurück, die wir heute hören. Wir gelangen in eine parallele Realität, in der wir uns neu erfinden können. Musik aus der Vergangenheit wird ja in der zeitgenössischen Aufführungspraxis oft aus dem Kontext gerissen. Wir machen uns frei von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, mit denen wir pausenlos konfrontiert sind. Schon Björk sagte: We have to invent our own roots. In diese Richtung gehen auch wir.”
Der prozessuale Charakter von “Little Faith” ist mit dem fertigen Album noch nicht abgeschlossen. Er setzt bei der Rezeption erneut ein, denn mit jedem Hören verändern sich Fokus, Perspektive, Tiefenauflösung und Zeitgefüge. Es ist eines der wenigen Alben in der Musikgeschichte der letzten 50 Jahre, die zu hören ungeachtet aller persönlichen Vorlieben niemals zur Routine werden kann. „Little Faith“ ist nicht weniger als ein schwer zu bändigender in Klang gegossener lebender Organismus.